Foto: cephir (CC BY-NC-ND 2.0)

Stellen Sie sich vor, Sie sind vor Krieg oder Verfolgung aus Ihrem Heimatland geflüchtet. Sie suchen Zuflucht in einem fremden Land, in der Gewissheit, dass Sie dort in Ihrem Sein als Mensch die gleichen Rechte zugestanden bekommen, die jedes Mitglied in dieser Gesellschaft genießt. Es geht also um Grundrechte: um das Recht auf Freizügigkeit, das Recht auf Arbeit, das Recht auf soziale Sicherheit, das Recht auf Bildung.

Sie müssen jedoch feststellen, dass in Deutschland in der Frage der Grundrechte für Flüchtlinge andere Maßstäbe gelten. Sie müssen feststellen, dass Sie regelrecht stigmatisiert werden. Denn: Flüchtlinge und Asylsuchende dürfen sich nicht frei bewegen, weil sie in Deutschland der Residenzpflicht unterliegen. Flüchtlinge und Asylsuchende dürfen nicht arbeiten und damit ihren Unterhalt selbst bestreiten, weil sie einem Arbeitsverbot unterliegen. Flüchtlingen und Asylsuchenden wird nicht das gesetzlich geltende Existenzminimum zuerkannt – zuerkannt wird ihnen ein um 40 Prozent niedrigeres Existenzminimum. Die Kinder von Flüchtlingen und Asylsuchenden haben keinen Rechtsanspruch auf Bildung. Flüchtlinge und Asylsuchende werden in zum Teil menschenunwürdigen Sammelunterkünften untergebracht.

Bereits im letzten Jahr kämpften Flüchtlinge für Verbesserungen im Asylrecht – auch am Brandenburger Tor. Doch geschehen ist nichts. Die Merkel-Regierung hat sich geweigert, die EU-weit einmalige Residenzpflicht abzuschaffen, das laut Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 18.7.2012 verfassungswidrige  Asylbewerberleistungsgesetz zu korrigieren, ein Recht auf Arbeit zu gewähren, einen Rechtsanspruch auf Bildung für Flüchtlingskinder zu billigen sowie eine menschenwürdige Unterkunft zu gewährleisten.

Deshalb sind die Flüchtlinge und Asylsuchenden erneut in einen Streik eingetreten. Seit 7 Tagen sind sie im Hungerstreik. Und am 14.10. haben sie nach einer Pressekonferenz am Brandenburger Tor die „zweite Stufe“ ihres Flüchtlingsstreiks betreten: nun wird auch von der Flüssigkeitszufuhr abgesehen. Mir begegneten dort Menschen mit Verzweiflung in den Augen. Ihre Augen sagen alles. Die Menschen sind es leid, als Menschen zweiter Klasse behandelt zu werden.

Deutschland verletzt mit seiner Haltung mehrfach die UN-Menschenrechtskonvention und betreibt eine Politik der Abschreckung. Menschenwürde kann migrationspolitisch nicht relativiert werden. Die CDU/CSU und Merkel müssen sich in dieser Frage insbesondere im Zuge der Sondierungs- und möglichen Koalitionsgespräche bewegen. „Das Asyl- und Flüchtlingsrecht (Asylkompromiss 1992) ist ein menschen- und verfassungsfeindliches Abschreckungsrecht, das eines Rechts- und Sozialstaates nicht würdig ist“ (Heribert Prantl, „Vorsicht, Sie betreten Deutschland“, SZ vom 5.11.2012). Und dieser Asylabwehrapparat ist europäisiert. Das zeigt Lampedusa in tragischer Weise.

Cansel Kiziltepe

 

Anhang:

In Artikel 13 der UN-Menschenrechtskonvention heißt es, jeder habe „das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen.“

In Artikel 22 der Konvention heißt es, jeder habe „als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit sowie unter Berücksichtigung der Organisation und der Mittel jedes Staates in den Genuß der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlich sind.“

Artikel 23 (1) sagt, jeder habe „das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit.“

Artikel 25 (1) sagt, jeder habe „das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.“

Artikel 26 (1) sagt, jeder habe „das Recht auf Bildung. Die Bildung ist unentgeltlich, zum mindesten der Grundschulunterricht und die grundlegende Bildung. Der Grundschulunterricht ist obligatorisch. Fach- und Berufsschulunterricht müssen allgemein verfügbar gemacht werden, und der Hochschulunterricht muß allen gleichermaßen entsprechend ihren Fähigkeiten offenstehen.“

http://www.un.org/depts/german/grunddok/ar217a3.html