FES_logoBeitrag von Michael Meier, Büroleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Istanbul.

In den vergangenen zwei Wochen erlebte die Türkei Massenproteste mit mehr als 1 Mio. Menschen vor allem in Istanbul sowie in Ankara, Izmir und fast allen der 81Provinzen der Türkei. Bisher sind drei Menschen gestorben, fast 5.000 Menschen wurden verletzt, tausende wurden verhaftet, der materielle Schaden ist immens. Auch in vielen Städten in Deutschland und Europa fanden Unterstützungsdemonstra- tionen statt.

Begonnen als Protest gegen die Fällung von Bäumen auf dem zentralen Istanbuler Taksim- Platz steht mittlerweile aber die gesamte Regierungspolitik Erdogans zur Debatte, wird ihr Polarisierung, Intransparenz, undemokratisches und autoritäres Verhalten vorgeworfen. Die Polizei versuchte zunächst, mit extremer Härte den Pro- test zu unterdrücken. Nachdem die jungen Protestierer aber von zehntausenden Bürgern unterstützt wurden, zogen die Polizeikräfte ab. Dennoch gibt es immer noch Demonstrationen und Zusammenstöße mit der Polizei, sind weite Teile der Innen- stadt blockiert. Der Taksim- Platz ist weiterhin von tausenden Menschen besetzt, ein Hauch von Occupy- Bewegung weht über die derzeit friedliche Kulisse.

Erdogan hat geschafft, was noch keiner vor ihm vermochte: er brachte die gesamte Opposition gegen sich und seine Regierung auf die Straße. Studenten und Haus- frauen, Kommunisten, Nationalisten und Kemalisten, Anhänger der drei eigentlich verfeindeten großen Fußballclubs, Gewerkschafter und LGBT- Gruppen, sämtliche Oppositionsparteien, NGOs und Umweltschützer gehen gegen die Regierungspolitik auf die Straße.

Die Umbaupläne für den Taksim- Platz brachten das Fass zum Überlaufen, denn es kamen mehrere Ereignisse zusammen, die vielen Menschen das Gefühl gaben, die Regierung setzt ihre Auffassungen gegen jeden Widerstand durch und die in der Summe die Proteste der Menschen erklären. Politische Beobachter sprechen von einem Kulturkampf, der sich beschleunigt hat und die Gräben zwischen den Bevölke- rungsgruppen vertieft.

Am 29.Mai wurde der Grundstein für die umstrittene dritte Bosporus-Brücke gelegt, für die Millionen Bäume geschlagen werden und die den bisher grünen Norden Is- tanbuls in eine Betonwüste verwandeln wird. Neue Millionenstädte sollen zusammen mit einem Mega- Flughafen entstehen und nicht zuletzt sind ein zweiter Bosporus- Kanal sowie eine riesige Moschee auf dem höchsten Berg Istanbuls geplant. Um- weltbelange werden nicht berücksichtigt, Proteste sind erfolglos, auch weil sie nicht die große Masse der modernitätsorientierten Türken erreichen.

Der Namen der neuen Brücke, Yavuz Sultan Selim, entfachte einen Sturm der Ent- rüstung unter Aleviten. Während er für die Sunniten der Eroberer der heiligen Stätten Mekka und Medina ist, der zudem erfolgreich die schiitischen Truppen der Perser geschlagen hat, verbinden Aleviten mit diesem Sultan brutale Massaker gegen ihre Vorfahren. Die Namenswahl symbolisiert so die weitere Spaltung der Gesellschaft und gilt bei den Aleviten als bewusste Provokation der Regierung.

Die Verabschiedung eines Gesetzes zur Einschränkung des Verkaufs von Alkohol wurde von vielen Menschen als Eingriff in ihren Lebensstil empfunden, denn der rela- tiv geringe Alkoholverbrauch der Türken (1,5ltr. Alkohol pro Kopf/ Jahr einschließlich der 32 Mio. Touristen gegenüber 10,7 Liter im EU- Durchschnitt) taugt kaum als Be- gründung für diese Verschärfung. Schlimmer als das Gesetz waren die Kommentare Erdoğans, der aufforderte, doch zu Hause zu trinken. Zudem hatte er sich im Parla- ment auf Religion und Koran berufen- für die säkulare Türkei bisher undenkbar. Gängelung, Islamisierung und Gleichschaltung lauteten deshalb die gängigsten Vor- würfe.

Diese Themen kulminierten und fanden ihr Ventil am Taksim- Platz in Istanbul. Die Brutalität des Polizeieinsatzes war Auslöser der Proteste, aber es drückte sich auch das Unwohlsein vieler Menschen mit der wirtschaftlich erfolgreichen, aber zuneh- mend autokratischer regierenden AKP aus. Das Präsidialsystem soll in der neuen Verfassung verankert werden, Regierungsvorhaben werden ohne große Diskussio- nen und ohne ausreichende Information der Opposition im Parlament verabschiedet, Kritik wird nicht aufgenommen, Bürgerbeteiligung gibt es kaum, Kompromisse wer- den nicht gemacht, das schleichende Gift absoluter Macht zieht sich durch nahezu alle Bereiche. Weitere Kritikpunkte der Demonstranten sind die Bildungsreform, die monumentalen Großprojekte, die Privatisierung wichtiger Bereiche der Grundsiche- rung (Wasser, Energie, Verkehr). Selbst das wichtigste innenpolitische Thema, die Lösung der Kurdenfrage, wird unter Ausschluss von Parlament und Öffentlichkeit zwischen Geheimdienst und PKK verhandelt.

Wichtigste Legitimation Erdogans sind immer wieder die Wahlergebnisse von 50% der Stimmen, weshalb Beobachter bereits von einer Diktatur der Mehrheit sprechen. Er trägt zudem mit zuspitzenden Äußerungen zur Eskalation bei, nennt die Demonst- ranten „Marodeuren“, macht die Opposition und das Ausland verantwortlich und hat für kommendes Wochenende seine eigenen Anhänger zu Demonstrationen aufgeru- fen.

Ein gespenstisches Bild gaben die türkischen Medien ab. In den ersten Tagen gab es einen Boykott der Berichterstattung, berichtete CNN International früher von den Demonstrationen als CNN Türk. Die Medien sind durch Einflussnahme der Regie- rung aber vor allem indirekten Druck durch die Eigentümer, die wirtschaftliche Inte- ressen vor Informationsinteressen stellen, paralysiert. Die Rolle der Berichterstattung übernahmen die sozialen Medien, die Erdoğan wiederum als größte Bedrohung der Gesellschaft brandmarkte.

Die Balance der Macht ist in der Türkei aus den Fugen geraten: glücklicherweise nicht durch das in der Vergangenheit allgegenwärtige Militär als Hüter der Republik, sondern durch den fehlenden Ausgleich einer starken Regierung durch Parlament, Justiz und eine freie Presse.

Diese für eine Demokratie so wichtigen Instanzen funktionieren aus unterschiedli- chen Gründen nicht: die AKP dominiert das Parlament und die Justiz. Eine Zivilge- sellschaft entwickelt sich erst sehr langsam und die politische Opposition kann keine konstruktive Alternativen anbieten oder den politischen Protest kanalisieren. Interes- sant ist das Profil der Demonstranten: zu zwei Dritteln unter 30 Jahre, zu 54% erst- malig bei Protesten fühlen sich 70% keiner Partei nahe. Mehr als 90% wollen ein En- de der Polizeibrutalität, kritisieren den autoritären Regierungsstil und fordern mehr demokratische Rechte.

Die 2011 mit fast 50% der Stimmen gewählte AKP- Regierung, geht gegen ihre Kriti- ker oder auch nur Andersdenkende oder –lebende zunehmend intolerant vor und beschneidet fundamentale Rechte und Freiheiten. Selbst innerhalb der AKP formiert sich Widerspruch, rufen Präsident Gül und der stellvertretende Ministerpräsident A- rinç zu Ruhe, Besonnenheit und Ausgleich auf. Staatspräsident Gül betonte, dass Demokratie nicht nur auf Wahlen beschränkt ist, es braucht auch eine demokratische Kultur, die notwendigen Institutionen und Rechtsstaatlichkeit.

Erstmals in der Geschichte der Republik forderte eine starke Protestbewegung De- mokratie, die Respektierung von Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten. Menschen bekommen erstmals das Gefühl, tatsächlich etwas bewegen zu können. Wenn die Proteste der vergangenen Tage einigermaßen friedlich bleiben und ein Gespräch mit der Regierung möglich ist, könnte dies der Beginn einer neuen Demo- kratisierungswelle sein.