Das Mitgliedervotum zum Koalitionsvertrag ist in der Parteiengeschichte einmalig.
Erstmals haben alle Parteimitglieder die Möglichkeit, direkt und unmittelbar über eine SPD-Beteiligung an der Regierung zu entscheiden. Dieses Vorgehen betrachte ich als eine große Errungenschaft. Bei der aktuellen Diskussion sollte jedoch darauf geachtet werden, dass die Argumente für oder gegen eine große Koalition das Verfahren an sich nicht infrage stellen.
Viele haben in den letzten Wochen verfolgen können, dass ich mich aus grundsätzlichen Überlegungen gegen eine Große Koalition positioniert habe. Ich bin nach wie vor sehr skeptisch, ob wir mit dieser Regierungsbeteiligung den besten Weg für die Zukunft der Partei einschlagen. Wie in 2005 und 2009 haben wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass die strategischen Alternativen fehlen. Beide Male reichte es nicht für die Wunschkoalition Rot-Grün und wie in 2005 bleibt auch jetzt „nur“ die Entscheidung, mit der CDU und CSU zu regieren oder in die Opposition zu gehen. Wir haben viel zu lange Rot-Rot-Grün als Alternative ausgeschlossen. Ich wünsche mir, dass wir in den nächsten 4 Jahren weitere Anstrengungen unternehmen, um 2017 endlich einen Politikwechsel herbeiführen zu können. Mit dem Beschluss des Bundesparteitages, keine Koalitionen mit der Linkspartei im Vorfeld auszuschließen, ist der Anfang gemacht.
Der Parteikonvent gab im Oktober den Startschuss für die Koalitionsverhandlungen. Seit gut zwei Wochen steht der Koalitionsvertrag und wir diskutieren an der Basis. Diese Auseinandersetzung ist mir sehr wichtig. Wenn man als Partei einen Koalitionsvertrag aushandelt, geht das mit Kompromissen einher – auch wenn in anderen Konstellationen verhandelt worden wäre. Es ist klar, dass die Union nicht mal eben unser Wahlprogramm zu 100 Prozent unterschreiben würde. Und so wird man vor die Wahl zwischen zwei Alternativen gestellt, die beide unzureichend sind. Und die gemachten Kompromisse sind sehr schmerzhaft.
So im Falle des Doppelpasses. Da sich die Union gegen eine generelle Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft stemmt, konnte nur die Abschaffung der Optionspflicht ausgehandelt werden. Nun stehen wir vor der Wahl, eine Regelung zu akzeptieren, die uns nicht weitreichend genug ist und die für ganz viele Menschen keine Veränderung des Status quo bedeutet. Die Abschaffung des Optionszwangs bedeutet gleichzeitig jedoch eine konkrete Verbesserung für ca. 500.000 junge Menschen mit Migrationshintergrund. Die Alternative wäre, dass sich für niemanden etwas verbesserte.
In anderen Fragen hat sich die SPD stärker durchgesetzt: Ein flächendeckender Mindestlohn wird ab 2015 kommen und endlich ein lange gefordertes Stück Gerechtigkeit herstellen. Die Tarifbindung von Unternehmen und Branchen wird gestärkt und so hoffentlich die Voraussetzung geschaffen für höhere Löhne. Die Rente mit 67 wird durch den Koalitionsvertrag ein Stück entschärft. Eine Mietpreisbremse wird eingeführt und die Mittel für die Städtebauförderung steigen. Mehr Gleichberechtigung von Frauen wird durch eine verbindliche gesetzliche Quote für Aufsichtsräte erreicht.
Zur Ehrlichkeit gehört, klar zu benennen, mit welchen Bereichen ich überhaupt nicht einverstanden bin. Dazu zählt das „Weiter so“ in der Europapolitik ohne Maßnahmen, wie man die schwierige Wirtschaftslage in Südeuropa lösen will. Die Fortführung der Austeritätspolitik ist keine Lösung. Die Leiharbeit wurde nicht so konsequent begrenzt, wie es notwendig gewesen wäre. Die Gleichstellung von homosexuellen Partnerschaften ist genauso aufgeschoben wie die Energiewende. All das stört mich sehr im Koalitionsvertrag. Und ich hoffe, dass hier die letzten Worte noch nicht gesprochen wurden.
In den vergangenen Wochen habe ich viele Gespräche geführt und viele verschiedene Argumente gehört. Man kann aus einer Reihe berechtigter Gründe zu einem „Nein“ oder einem „Ja“ kommen. Für Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter hat die konkrete Verbesserung von Lebenssituationen stets einen hohen Stellenwert.
Als Sozialdemokratin und als Gewerkschafterin wiegen für mich zwei Punkte im Koalitionsvertrag besonders schwer:
Da ist zum einen die vollständige Ausweitung des Geltungsbereiches des Arbeitnehmerentsendegesetzes. Hiermit kann endlich ausländischer Lohnkonkurrenz ein Ende gemacht, können zwingende Mindestarbeitsbedingungen hergestellt werden. Unternehmen mit Sitz im Ausland, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach Deutschland entsenden, müssen sich dann an die hiesigen Mindestarbeitsbedingungen halten. Und hier geht es um mehr als die unterste Tarifgruppe. Das komplette Tarifgitter samt Regelungen für Urlaub u.a. muss eingehalten werden. Das stärkt die Lohnstruktur insgesamt und verhindert ein Absenken oberer Lohngruppen nach unten.
Da ist zum anderen – bei aller Kritik – der längst überfällige gesetzliche flächendeckende Mindestlohn. Von den 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben 23 bereits einen Mindestlohn eingeführt. Auch in Deutschland können so die Arbeitsverhältnisse vieler Menschen verbessert werden. Mehr noch, Betrieben, die gute Arbeitsbedingungen gewähren, wird der Rücken gestärkt.
Und deshalb will ich allen, die von diesen Koalitionsvereinbarungen profitieren werden, diese Verbesserungen nicht vorenthalten. Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werde ich mit „ja“ stimmen.
Ich möchte mich aber auch bei allen Genossinnen und Genossen für die intensive Debatte in den vergangenen Wochen bedanken. Es zeigt, wie lebendig unsere Partei ist. Und ich hoffe, sie bleibt es auch nach der Auszählung der Stimmen, damit wir im Anschluss unseren Blick auf die kommenden Herausforderungen richten können – egal, wie das Ergebnis ausfällt.
Cansel Kiziltepe