Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Genossinnen und Genossen,
ich freue mich, heute zum Gedenken an Marie Juchacz hier sprechen zu dürfen.
Vor genau 100 Jahren spricht Constantin Fehrenbach von der Zentrumspartei: „Ich erteile das Wort der Frau Abgeordneten Juchacz.“ Ohne einen weiteren Hinweis auf die historische Bedeutung dieses Augenblicks wird damit erstmals in einem deutschen Parlament einer Frau das Wort erteilt.
Diese Frau ist Marie Juchacz. Sie wird 1879 in Landsberg an der Warthe geboren. Nach dem Besuch der Volksschule arbeitet sie als Hausangestellte, Fabrikarbeiterin, Krankenwärterin und Näherin. Sie ist eine Arbeiterin durch und durch.
Im Jahr 1908 tritt sie in die SPD ein. Von 1917 bis 1933 ist sie Mitglied des Parteivorstands und Leiterin des Frauenbüros der Partei.
Neben ihrer Parteiarbeit übernimmt sie die Redaktion der „Gleichheit – Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen“, die sie bis 1921 leitet. Neben ihrer politischen Arbeit ist sie maßgeblich an der Gründung der Arbeiterwohlfahrt beteiligt. Im Jahr 1933 flieht sie vor den Nationalsozialisten und kehrt 1949 nach Deutschland zurück und unterstützt den Wiederaufbau der AWO. Sie verstirbt 1956 in Düsseldorf und hinterlässt ein beeindruckendes Lebenswerk.
Am 19. Februar 1919 tritt Marie Juchacz vor die Nationalversammlung in Weimar.
„Meine Herren und Damen“. So beginnt sie die erste Rede einer Parlamentarierin. Die Begrüßung klingt für uns heute unüblich. Damals sorgte sie für Heiterkeit im Parlament. Sie war ein Hinweis auf den deutlich größeren Anteil an männlichen Abgeordneten.
In den 256 Sekunden, in denen sie ihre Stimme erhebt, sagt sie:
„Ich möchte hier feststellen, und glaube damit im Einverständnis vieler zu sprechen, dass wir deutschen Frauen dieser Regierung nicht etwa in dem althergebrachten Sinne Dank schuldig sind. Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist.“ Das Wahlrecht.
Was damals galt, das gilt auch heute: Das Frauenwahlrecht ist eine Selbstverständlichkeit. Und dennoch musste es von Marie Juchacz und anderen Sozialdemokrat*innen erkämpft werden.
Und auch wir müssen heute weiter für die Gleichberechtigung kämpfen. Paritätisch besetzte Parlamente sind leider noch nicht selbstverständlich. Ein Blick in den Bundestag zeigt dies deutlich. Der Frauenanteil liegt derzeit bei knapp 31 %.
Damit sich das ändert, müssen wir heute eindringlich fordern: „Mehr Frauen in die Parlamente“. Der Frauenrat kämpft mit seiner Initiative bereits an unserer Seite.
Das Ziel einer gleichberechtigten Gesellschaft ist noch nicht erreicht. Wir müssen weiter dafür kämpfen! Wir können uns ein Beispiel nehmen an den Frauen von damals: Frauen unterschiedlicher politischer Richtungen setzten sich für ein gemeinsames Ziel ein.
Auch heute müssen wir gemeinsam für unsere Ziele kämpfen. Die Sozialdemokrat*innen in Brandenburg haben es vorgemacht: Der brandenburgische Landtag hat das erste Parité-Gesetz in Deutschland beschlossen. Auch in unseren Nachbarländern gibt es bereits Paritätsgesetze. All diese Beispiele zeigen, dass Paritätsgesetze erreicht werden können. Und wir können aus den Erfahrungen lernen: Wenn der politische Wille erst da ist, kann auch ein rechtlicher Rahmen geschaffen werden.
Wenn Artikel 3 des Grundgesetzes kein leeres Versprechen sein soll, dann müssen wir uns für echte Gleichberechtigung einsetzen. Ein Paritätsgesetz ist dabei ein erster wichtiger Schritt. Aber damit die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen im Parlament Wirklichkeit werden kann, müssen sich auch weitere Rahmenbedingungen ändern. Die parlamentarische Arbeit muss familienfreundlicher werden.
Das „Meer von grauen Anzügen“ ist kein unveränderlicher Normalzustand. Wir können die ungleichen Geschlechterverhältnisse gemeinsam verändern. Nehmen wir uns ein Beispiel an Marie Juchacz!
Vielen Dank.
Die Rede wurde am 19.02.2019 am Marie-Juchacz-Denkmal am Mehringplatz in Berlin-Kreuzberg gehalten.